Mein erster Versuch Malerin zu werden, fand schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt meines Lebens statt. Ich war etwa zwei Jahre alt. Wir schreiben das Jahr 1962 und befinden uns in einem kleinen Ort in Süddeutschland, nahe der österreichischen Grenze. Venedig liegt nur 500 km weiter südlich. Dort durfte Jackson Pollock 1950 an der Biennale teilnehmen, nachdem er seit 1946 die sogenannte Dripping-Technik entwickelt hatte. Er ließ Farbe auf die auf dem Boden liegende Leinwand tropfen und fließen, schüttete, sprengte und spachtelte, so dass sich Strukturen, Rhythmen und Muster aus Farbspritzern und –flüssen bildeten. Er trug die Farbe nicht mehr mit dem Pinsel auf, sondern ließ sie aus einem Loch im Boden einer Farbdose fließen. Möglicherweise trug der Wind etwas von seiner Energie über die Alpen.
Traditionen wurden bei uns sehr ernst genommen und so wurde der 14. Februar (Valentinstag) mit großen roten Herzen und Blumen gefeiert. In diesem Jahr war der Allgäuer Winter sehr kalt und mein Vater verlegte seine Arbeit von der Werkstatt ins Haus. Er war Gärtner und eines Abends damit beschäftigt, in der Küche ein großes ausgesägtes Holzherz mit rotem glänzendem Lack zu bestreichen. Natürlich wurde mir dabei mehrmals erklärt, dass ich jetzt sehr gut aufpassen müsse. Eine leckere erdbeerrote Farbe und ein großer Pinsel lagen vor mir. Aber nicht ich, sondern mein Vater durfte malen. Vor lauter Freude über die aufregende Tatsache, dass das große Holzherz leuchtend rot wurde, hüpfte ich quer durchs Zimmer. Irgendwann kollidierten meine Aktivitäten mit den Gesetzen der Schwerkraft und es passierte: Ich bin dem Farbeimer zu nahe gekommen, dieser kippte um und die Farbe verteilte sich großflächig auf dem Holzboden. Der abstrakte Expressionismus in einer kleinen Allgäuer Küche war geboren.
Da Action Painting eine sehr dynamische Maltechnik ist, bildeten sich ohne mein weiteres Zutun großflächige Farbpfützen. Es zeigte sich deutlich, dass diese Technik keine Komposition im Sinne eines geplanten Bildaufbaus benötigt. Komplexe, ineinander verwobene Farbstrukturen begannen sich zu bilden. Ein faszinierendes Schauspiel entwickelte sich, dessen ästhetische Qualität leider nur ich genießen konnte. Während sich Jackson Pollock mit derartigen Arbeiten wenige Jahre davor in die Kunstgeschichte einschrieb und einer der bedeutendsten amerikanischen Künstler der Moderne wurde, stieß mein frühes Schaffen auf großes Unverständnis. Die Zeit für meinen künstlerischen Durchbruch schien zu Beginn der 60er-Jahre noch nicht reif. Stattdessen begann um mich herum ein hektisches Treiben. Meine Mutter brachte mehrere Putzlappen, meine Großmutter einen großen Wassereimer und mein Vater schimpfte wie ein Rohrspatz. Es musste schnell gehen, damit die Farbe nicht auf dem Boden kleben blieb. Innerhalb weniger Minuten war alles aufgewischt und die genialen roten Farbspuren verschwanden. Ich musste ins Bett gehen, das Valentinsherz wurde während meiner Abwesenheit mit traditioneller Pinseltechnik gefertigt.
Von Jackson Pollock erfuhr ich natürlich erst Jahre später. All das ist lange her. Inzwischen habe ich eigene Pinsel und mein eigenes Atelier. Meine Malerei ist gekennzeichnet durch die Polarität zwischen Freiheit und Zwang. Dies drückt sich nicht nur in den Themen, sondern vor allem in der Wahl der malerischen Mittel aus. Ich male zunächst figürlich und wähle das Portrait als zentralen Ausgangspunkt meiner Malerei. Während des malerischen Prozesses mache ich zahlreiche Ausflüge in die Welt des experimentellen Umgangs mit Farbe. Durch den Akt der Übermalung entstehen kräftige, expressive, miteinander kontrastierende Farbwerte. Teilweise werden die Figuren dabei zerstört, teilweise in einer nächsten Schicht wieder heraus gearbeitet. Ein Wechselspiel zwischen der Festlegung auf eine Form und der Zerstörung dieser Form beginnt. Zufrieden bin ich, wenn die fertige Arbeit Spuren dieser unterschiedlichen malerischen Sprachen enthält.
Wer den Mut hat, alltägliche Routinen hinter sich zu lassen und an Lösungen zu arbeiten, die jenseits linearer Denkmodelle zu finden sind, betritt den Raum, in dem Zukunft gestaltet wird. Zukunftsfähigkeit benötigt innovatives Denken. Der Einsatz von künstlerischen Strategien schärft die Sinne, lässt Raum für Intuition und öffnet neue Perspektiven in komplexen Situationen.